Einen Vorteil hatte das Leben an der Uni. Diesen Vorteil vermisse ich in den 10 Jahren wirklich schmerzhaft (ok, es waren mehrere Vorteile, aber über den Einen will ich jetzt schreiben). An einer Universität geschehen bestimmte gesellschaftliche Veränderungen immer einige Jahre im Vorlauf. Wenn man also von nichtstudierenden Bekannten oder über die Massenmedien über einen absolut neuen, vielversprechenden und bisher nicht dagewesenen Trend in Kenntnis gesetzt wird, dann hat man - als Student - nicht nur bereits mehrjährige Erfahrung mit dieser Sache, sondern weiß auch, wie dieses Angelegenheit in paar Jährchen enden wird.
Das Kommunikationszeitalter brach etwa Anno 1995 über uns herein. Es war zwar schon Jahrzehnte über dieses Phänomen fabuliert und in unzähligen unzähligen SciFi-Filmen und -Geschichten - angefangen beim Klassiker 1984 von George Orwell - darüber spekuliert worden, aber letztendlich kam es doch ganz anders als vorhergesagt. Die Vorboten der neuen Zeit waren das Handy und der Internet-Browser (letzterer damals in Form des Netscape Navigator). Diese beiden technischen Errungenschaften - und deren Folgeprodukte - ermöglichten die komplette und ständige technische Anbindung des Menschen an die Informationskanäle dieser Welt. Zumindest theoretisch! Bis sich diese Neuerungen in den Alltag verbreiteten, gingen noch die Jahre in Land.
Zum Thema Browser fallen mir zwei kleine Episoden ein. Etwa im Herbst 1995 ließ ich mich in den Studentenrat der Universität Jena wählen (Die Bezeichnung StuRa war glaube ich so eine Art Wende-Erscheinung - an anderen Unis heißt diese Institution ASTA). Gegen Ende des Jahres war das Thema Haushaltsplanung im StuRa aktuell. Dort fiel den Mitgliedern eine Position mit dem Namen "MOSAIC" auf, für die Ende 1994 eine gewisse Geldmenge vorgesehen war, die aber im Haushaltjahr 1995 nicht abgerufen wurde. Nun hatten von den vielen neugewählten StuRa-Mitgliedern keiner auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon, was mit "MOSAIC" gemeint war. Das Rätselraten ging in Richtung einer Präsentation, Layout, Design und man vermutetet eine gewisse Zeitschrit oder Broschüre.
An dieser Stelle muß ich ehrlich zugeben, daß ich die anderen lange im Unklaren ließ, bis ich ihnen die Auflösung verriet. Mit "MOSAIC" war der Internet- rsp. WWW-Auftritt des StuRa gemeint. Da im Jahr 1994 der einzige verfügbare Browser den Namen "Mosaic" trug, hatte man den zu erstellenden Web-Auftritt mit dieser Software umschrieben. Die Haushaltsposition "MOSAIC" bedeutet also in der Langform: "etwas machen, daß später alle Welt mit dem Mosaic ansehen kann". Nun hatte im Sommer 1995 die Firma Netscape einen fulminaten Börsenstart, über den in den Medien ausgiebig berichtet wurde. Ende 1995 war der Begriff "Netscape Navigator" allgemein bekannt. Nicht wenige Leute konnten über diverse Erfahrungen mit diesem Produkt berichten und sich bereits diverse Webseiten angesehen. Man kannte also den Navigator. So konnte ich Mosaic als dessen Vorgänger gut erklären. Aber das erklärte nicht den Sinn der Haushaltsposition. Wozu braucht man eine eigene Seite im WWW, die später alle Welt mit dem Navigator betrachten kann? Auf diese Frage fiel mir sponten keine passende Antwort ein. Auf die Frage, wie man einen Webauftritt gestaltet, würde der interessierte Student sowieso nur innerhalb des Barakenblechs vom Uni-Rechenzentrums eine Antwort bekommen - und zwar von Leuten, die nur unverständliches Informatiker-Kauderwelsch sprechen. Das Wort "Webdesign" gab es damals noch gar nicht.
Aber es gab schon im Jahr 1994 Studenten, die die Notwendigkeit einer Web-Präsentation erkannt hatten. Diese Leute bewiesen erstaunlichen Weitblick. Nur bei der Bezeichnung der ensprechenden Haushaltsposition waren sie etwas ungeschickt. Aber sie konnten halt nicht voraussehen, daß bereits ein Jahr später, der - sowieso nur eingeweihten bekannte - Name "Mosaic" wieder völlig vergessen ist und stattdessen alle Welt vom "Navigator" spricht. Da eben auch eine technische Revolution ihre Kinder frisst, erlitt der Navigator später das gleiche Schicksal, wie der von ihm hinweggefegte Mosaic. Trotzdem lebt irgendwie der Geist dieser alten Browser weiter im Firefox und im IE. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die erste Webseite habe ich so etwa im Jahr 1994 gesehen. Ein Kommilitone saß damals an einer dieser UNIX-Kisten mit den extrem großen 21-Zoll-Röhrenmonitoren und tippte eifrig in einen Texteditor im X-Window-System. Darüber prangt der Mosaic - schon damals mit den browsertypisch Symbolen für "vor", "zurück", "neu laden" und "Häuschen".
Das war zu einer Zeit, als wir uns für unsere PCs mit 286er oder 386er Prozessor gerade mal einen 14 Zoller leisten konnten. Diese Rechner hatten noch nicht mal eine Netzwerkkarte. Wozu auch? Es gab kein Netz. Wir hatte noch nicht einmal ein Modem, weil so kurz nach der Wende im Osten der Ausbau des Telefonnetzes noch nicht bei uns angekommen war.
Zurück zum Web-Experten der ersten Stunde: Wenig später zeigt er stolz das Ergebnis der Tätigkeit - seine erste Homepage. Es ware ein paar Zeilen schwarzer Text auf einem aggressiven gelben Hintergrund mit Donald-Duck-Bild in der rechten oberen Ecke. Rein technisch hatte er die Sache mit dem HTML schnell begriffen. Das Problem lag eher darin, daß nichts interessantes über sich zu berichten wußte. Name, Geburtsdatum und Student der Uni Jena füllten gerademal drei Zeilen. Danach war Schluß. In Ermangelung eines digitales Bildes konnte er nur das Entenvieh als Profilbild verwenden. Scanner und Digitalkameras bewegten sich damals in Preisregionen weit außerhalb unseres Bafög-Horizonts.
Ich weiß nicht, was ich damals bei Anblick dieser Webseite gedacht habe. Es gab ja schon damals permanente technische Neuerungen, die den Durchbruch für Irgendetwas darstellen sollten und nach einem halben Jahr vergessen waren. Diese Donald-Bild auf gelbem Hintergrund sah nicht nach etwas wirklich innovativem aus, geschweige denn etwas was man irgendwie gebrauchen könnte.
Es dauerte noch so ein bis zwei Jahre bis alle Informatik-Studenten ihre eigene Homepage hatten - mit Hintergründen, die an biedere Tapetenmuster erinnerten und gescannten Bildern der Hauskatze. Schnell hatte sie auch ihre Seiten unter der Überschrift "meine Freunde" untereinander verlinkt. Und: Das war's dann auch! Niemand hat seine Seite aktualisiert oder gepflegt. Das ist eine mühsame Sache. Ich vermute, wenn man die Festplatten des Rechenzentrums gründlich durchsucht, dann würde man diese Seiten heute noch finden. Auf keiner gäbe es einen Hinweis, was die betroffene Person nach 1996 gemacht hat - ob sie die Uni verlassen hat oder inzwischen Professor geworden ist.
Achja, wie bin ich eigentlich auf die Idee gekommen, das aufzuschreiben?! Ich weiß: Durch diesen Spiegel-Artikel.
http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,532070,00.html
Eine Studentin berichtet über ihren Abschied von den Online-Communities. Tatsächlich gibt es im Jahr 2008 Auguren, die solchen Communities eine blühende Zukunft vorhersagen. Wirklich bedauerlich: Hier handelt es sich offensichtlich um Personen, die nie an einer Uni weilten!